Dr. Günter Ebbrecht, Einbeck
Wieder hat die
Kirchengemeinde Friedrichsbrunn zusammen mit dem Verein
„Bonheffer-Haus Friedrichsbrunn“ in den Ostharz eingeladen, um
einen Bonhoeffertag zu erleben – es ist schon der 21.! Wieder haben
sich Menschen aus der Nähe und Ferne auf den Weg gemacht. Auch wenn
dieser, wie bei mir, zum Teil durch den Harz, durch „Bonhoeffers
Mittelgebirge“ führt, so gelingt die Anfahrt nur mit Umwegen.
Zahlreiche Baustellen versperren den Weg und in Friedrichsbrunn
selbst soll die Hauptstraße erneuert werden. Glücklicherweise
hat sich der Baubeginn verzögert So ist das eben mit der Heimat. So
unberührt und heil, wie manche meinen, ist sie eben nicht. Zudem
muss ich den Wettersturz verkraften; nach dem superheißen
Sommer angenehm.
Gottesdienst im
Garten des Bonhoefferhauses
Über 80 Menschen haben
sich am Morgen des 26. August 2018 im Garten des einstigen
Ferienhauses der Familie Bonhoeffer zum Gottesdienst im Freien
versammelt. Der Blick auf das ansprechende Heftchen mit dem
Gottesdienstablauf auf den gedeckten Biertischen ruft Neugierde
hervor. Da prangt auf dem Deckblatt Albrecht Dürers Radierung von
Adam und Eva in ihrer fast nackten Jugendlichkeit und Schönheit.
Festgehalten wird der Moment, wo Eva aus dem Mund der Schlange die
verbotene Frucht ergreift, um sie Adam weiterzugeben. Noch liegen die
Tiere im paradiesischen Wald friedlich nebeneinander und träumen.
Ins Bild hinein ist das Thema des Tages montiert: „Heimat
zwischen Verlust, Suche und Ankunft“. Der Blick vom Cover des
Gottesdienstablaufes zum Altar und darüber
hinaus in den Garten, in dem einst die Kinder und Enkelkinder von
Karl und Paula Bonhoeffer spielten und werkelten, wird eingefangen
von der Altarbibel. Leuchtend farbig ist ein Blick in den Garten Eden
zu sehen. Eine Verbindung zwischen den Bildern und dem Thema des
Bonhoeffertages entsteht in meinem Kopf. Ich werde neugierig, was
mich erwarten wird.
Der Posaunenchor unter
der Leitung der Kirchenmusikerin Christine Bick intoniert: „Morning
has broken – Morgenlicht leuchtet, rein wie am Anfang. Frühlied
der Amsel, Schöpferlob klingt. Dank für die Lieder, Dank für den
Morgen, Dank für das Wort, dem beides entspringt.“ Die Gemeinde
singt kräftig und spürt den sanft fallenden Tropfen nach, die
sonnendurchleuchtet die Spuren Gottes im Garten reflektieren.
Der Ortspfarrer Ulrich
Lörzer spricht mit der Gemeinde Psalm 84 im Wechsel. Er ist eine
Einladung zum Tempel; denn lieb sind dem Beter, der Beterin die
Wohnungen Gottes. Die Seele sehnt sich nach den Vorhöfen, wo der
Vogel ein Haus und die Schwalbe ein Nest für ihre Jungen gefunden
hat und wo der Mensch Schutz und Schild, Heimat und Geborgenheit
finden kann. Der Tempel: ein heimatlicher Ort.
Pfarrerin Ruth Ziemer,
Schulpfarrerin im Kirchenkreis Halberstadt und Mitglied im Vorstand
des Vereins Bonhoefferhaus Friedrichsbrunn, liest Auszüge aus der
zweiten Schöpfungserzählung. Die Paradiesgeschichte, die mit der
Vertreibung aus dem Paradies endet und in der Menschheitsgeschichte
mit Verlust, Suche und Ankunft von Heimat ihre vielfältige
Fortsetzung findet, wird zur Vorlage ihrer Predigt. Es geht „um das
Herkommen und das Ankommen und das Dasein in der Heimat“. Dieses
Wort ist mit ambivalenten Gefühlen verbunden. Lässt sich das Wort
„Heimat“ überhaupt in andere Sprachen übersetzen? Bedeutet es
la patrie – Vaterland? Meint es home oder
homeland, das Zuhause? Oder pays d'orgine, den
Geburtsort? Wohl alles dies und doch etwas anderes.
Die Predigerin nähert
sich von außen nach innen, von lauten Stimmen zu den leiseren. Sie
beginnt mit den lauten Stimmen, die uns in den Ohren dröhnen. Noch
weiß ich nicht, was in der vergangenen Nacht in Chemnitz geschehen
ist. „Gefällt dir unsere Heimat nicht? Dann geh doch woanders hin.
Du gehörst eh nicht zu uns,“ zitiert die Predigerin. Vor meinem
inneren Auge tauchen die Bilder von grölenden Menschen auf, mit
denen Menschen fremder Hautfarbe, anderen Glaubens, unbekannter
Kulturen verfolgt werden. „Du liebst doch deine Heimat, oder?“
dröhnen die Stimmen weiter. „Dann wirst du doch etwas tun, um sie
zu schützen. Vor Überfremdung. Vor dem Vergessen. Vor den
Kapitalisten. Oder möchtest du zulassen, dass es deine Heimat eines
Tages nicht mehr gibt?“ Heimat wird zu einem Drohwort. Zu laut sind
die Stimmen, die die leiseren übertönen, und die Angst einflössen.
Die Predigerin macht
eine Pause. Sie setzt neu und leise ein: „Ruhe. Stille…
Befreiendes Aufatmen… Die lauten Stimmen sind weg.“ Stattdessen
steigt ein Gefühl auf im Bauch. „Sehnsucht nach Geborgenheit.
Heimat als Sehnsucht nach einem Ort, an den ich hingehöre, zu dem
ich gehöre… Ein Ort, der zu mir gehört, an dem ich sicher bin, zu
Hause… Ein Ort, an dem es weder Gut noch Böse gibt und an dem ich
nackt sein kann, ohne mich zu schämen. Ein Ort, an dem ich Kind sein
kann. Ein Paradies. Ein Ort – an den ich nicht zurück kann.“
Da sind sie wieder, die
Bilder auf dem Deckblatt und in der Altarbibel. Die Predigerin
erzählt vom Garten Eden, erzählt menschlich von Gott und dem
Menschenpaar. Dabei spricht Gott auch Gebote aus und „achtet mit
rücksichtsvoller Konsequenz auf ihre Einhaltung.“ Denn Gott will
das Menschenpaar beschützen. Gott weiß: Wenn sie von der Frucht des
Baumes der Erkenntnis des Guten und Bösen essen, werden sie sich von
Gott entfernen, ihn verlassen, vielleicht sogar vergessen – „wie
Kinder ihren Vater und ihre Mutter verlassen.“ Der Wunsch, ihr
Leben selber zu gestalten, Grenzen auszutesten, aus der Wohlfühlzone
herauszukommen, ist groß. Sie essen die Frucht von diesem Baum und
werden gewahr: Sie sind nackt. Sie verstecken sich vor Gott. Das
kindliche Spiel mit dem vertrauten Gott ist unterbrochen. Sie sind
erwachsen geworden und müssen die Folgen ihre Tuns übernehmen.
Die Predigerin deutet:
„Für Gott, den Schöpfer, ist es Zeit, die Kontrolle über Adam
und Eva abzugeben und die Kinder loszulassen. Es fällt ihm nicht
leicht. Er hat es nicht so gemeint mit der Drohung: Ihr werdet
sterben. Aber gesagt ist gesagt. Gottes Wort.“ So stirbt die
Kindheit und mit der Kindheit das Paradies.
Doch bevor das
Menschenpaar die unbeschwerte Heimat verlassen muss, legt Gott
schützend Kleider um sie. Die Cherubim bewachen das Tor zum
Paradies. „Zurück bleibt ein Gefühl der Heimat, in der
Erinnerung… eine Ahnung, in einer inneren Schatzkiste aufbewahrt
mit bestimmten Gerüchen und Bildern und Geschichten.“ Selbst wenn
das Menschenpaar zurück könnte, würde es den paradiesischen Garten
nicht wieder erkennen, denn es hat nicht mehr die Augen von Kindern.
Die Predigerin fragt
die zuhörende Gemeinde: „Welche Bilder und Wünsche und
Erinnerungen und Träume mischen sich in Ihre Paradiesvorstellungen?“
Sie lässt Zeit zum Nachdenken und Nachsinnen.
Die Wächter bewachen
das Paradies. Eine Rückkehr ist nicht möglich. Doch für die
Predigerin verwandeln sich die drohenden Engelswächter mit ihrem
blitzenden Schwert in Beschützer der Erinnerungen und Wünsche der
Erwachsenen an die Heimat ihrer Kindheit; sie beschützen sie
zugleich vor ihren Gefühlen des Erwachsenenwerdens, „vor ihrer
Einsamkeit, ihrer Ohnmacht, ihrer Scham, ihren Schuldgefühlen.“
In einem
Schlussgedanken lädt die Predigerin ein, die innere Heimat, die
Sehnsucht nach dem Paradies von unserer tatsächlichen Kindheit
abzulösen. Sie liegt hinter uns, „verschlossen und beschützt
durch die Cherubim.“ Oft sind die biografischen Heimaterfahrungen
verbunden mit Heimatverlust. Doch die innere Heimat kann gekoppelt
werden an die Hoffnung, „die wir in uns tragen, an das, wofür wir
leben, was uns lebendig macht, von dem wir ab und zu einen
Vorgeschmack kosten dürfen, wenn wir tief berührt sind, wenn es
kribbelt, wenn unser Herz überfließt vor Glück, vor Dankbarkeit,
vor Staunen, vor Mitgefühl, vor Energie.“
Der Begriff „Heimat“
verbindet sich so mit Erwartungen, die unsere Vernunft übersteigen.
Die Predigerin erinnert zum Schluss an die Abschiedspredigt Dietrich
Bonhoeffers beim Weggang von Barcelona. Er predigte über Philipper
4,7, über Gottes Frieden, der höher ist als alle Vernunft. Sie
zitiert aus dieser Predigt einen Spitzensatz: „Frieden haben heißt
eine Heimat haben in der Unruhe der Welt.“ Und sie schließt: „Der
Friede Gottes kommt uns aus der Zukunft entgegen, er ist mehr als wir
denken und uns vorstellen können. Heimat als einen inneren Frieden
zu verstehen, der über alles menschliche Begreifen geht - wie
befreiend!“ Das letzte Wort der Predigt ist wie beim
abschiednehmenden Bonhoeffer: „Und der Friede Gottes, der höher
ist als alles Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus
Jesus.“ (Paulus im Brief an die Philipper 4,7).
„Da ist meine
Heimat – da bin ich zuhaus“
Der Verlust der
paradiesischen Heimat, die sehnsuchtsvolle Suche und die Hoffnung auf
Ankunft in der Heimat des Friedens Gottes, die leisen Töne und
Stimmen begleiten die Gäste des 21. Bonhoeffertages den Tag
über. Doch zunächst können sich alle mit dem kräftigen
Essensangebot von Frau Zehnpfund, der Besitzerin des Bonhoefferhauses
stärken. Inzwischen hat die Sonne die kühlenden Wolken aufgerissen
und wärmt die Besucherinnen und Besucher.
Sie werden nach dem
Mittagessen eingeladen, sich zu sechst rund um die Tische zu setzen.
Auf einem Plakat in ihrer Mitte lesen sie in Großbuchstaben das Wort
HEIMAT. Zu jedem der Buchstaben, entweder als Anfangs-, End- oder
Mittelbuchstaben können sie Worte bilden, die mit ihren
Heimaterfahrungen in Zusammenhang stehen. So entsteht eine Wortwolke
für die unterschiedlichen Heimaterfahrungen, die im Austausch der
zunächst Fremden Nähe und Vertrautheit entstehen lassen. Denn was
dem Einen Heimat bedeutet, kann beim Anderen heimatliche Gefühle
auslösen. Bei diesen Erzählrunden teilen die Menschen an den
Tischen einander den persönlichen Bezug zum Thema mit und lernen
sich kennen.
Anschließend machen
sich die Gäste auf den kurzen Weg vom Garten des Bonhoefferhauses
zur Bonhoefferkirche, wo mit einem Vortrag und einem Rundgespräch
das Tagesthema vertieft wird:
„Heimat und
Fremde - im Leben der Bonhoeffers und in den Erfahrungen
einheimischer und geflüchteter Menschen in Deutschland.“
Die Veranstaltung in
der Bonhoefferkirche ist, wie die Themenstellung nahe legt,
zweigeteilt. Nach der Begrüßung durch den Moderator Pfr. Christoph
Carstens führt Propst Dr. Ulrich Lincoln mit einem Referat zum Thema
„Dietrich Bonhoeffer: Heimat und Exil“ ein. Darauf folgt ein
Rundgespräch mit weiteren Gesprächspartnern mit dem allgemeinen
Thema „Verlust, Suche und Ankommen in der Heimat“.
Heimat und Exil bei
Dietrich Bonhoeffer
Propst Lincoln betont
zu Beginn seines Vortrages mit dem Doppelbegriff ‚Heimat und Exil‘
die große Aktualität des Themas, wobei das Stichwort ‚Heimat‘
höchst aktuell ist, das Wort ‚Exi‘ jedoch kaum thematisiert
wird. Sein Eindruck ist: ‚Der Heimatbegriff verkommt schnell zu
einer politischen Waffe.‘ Die politische Aktualität scheint neu,
tatsächlich wird der Heimatbegriff etwa alle zehn bis fünfzehn
Jahre in der BRD debattiert. ‚Er gehört zur Debatte um das
Selbstverständnis dieser Republik von Beginn an.‘ Es gibt den
Gebrauch des Wortes, zumeist mit starken Emotionen verbunden, und es
gibt das Nachdenken über diesen Sprachgebrauch. Diese Unterscheidung
ist hilfreich für das Denken Bonhoeffers über Heimat.
Das Wort ‚Exil‘
hingegen liegt der deutschen Sprache ferner; es ist ein lateinisches
Wort, „in gewisser Hinsicht ist der Begriff ein Fremdwort im
Deutschen. Exilierte haben es hier nie leicht gehabt.“ So sahen
sich Exulanten bei ihrer Rückkehr nach 1945 dem Verdacht ausgesetzt,
Vaterlandsverräter zu sein; prominent bei Aussagen über Willy
Brandt.
Eberhard Bethge, Freund
und Biograf Bonhoeffers, kommentiert diese Schieflage in einem
Aufsatz aus dem Jahr 1968 mit Bezug auf Bonhoeffer. Wie hat
Bonhoeffer Heimat und Exil verstanden? Lincoln entfaltet seine
Antwort in drei Thesen.
Die 1. These:
„Heimat ist für Bonhoeffer notwendigerweise etwas anderes als für
uns heute.“
‚Heimat‘ spricht
„von dem Alten, Bekannten, Vertrauten, von der Herkunft.“ So
bestimmt Lincoln: „Heimat zu haben heißt, auf eine Frage antworten
zu können… ,Wo kommst du her?‘ Heimat zu haben heißt, eine
Herkunft zu haben und darüber Auskunft geben zu können.“ Die
Frage wird von außen gestellt: „Wo kommst du her?“ Der
Vortragende unterscheidet sie von der Frage „Wo gehöre ich hin?“
Diese Frage fragt nach der Identität, die von der Frage nach der
Heimat zu unterscheiden ist.
Zugleich folgt Lincoln
der These W. G. Sebalds in ‚Unheimliche Heimat‘: In dem Moment,
wo in der Heimat kein Verweilen mehr war, wo Menschengruppen sich
gezwungen sahen, auszuwandern, da gewinnt ‚Heimat‘ Gewicht.
Pointiert: „Je mehr von der Heimat die Rede ist, desto weniger gibt
es sie.“ Daraus folgt für Lincoln ein Doppeltes:
-
„Der
Heimatbegriff ist reflexiv; sobald er verwendet wird, ist die Sache
selbst bereits entglitten, vielleicht für immer verloren.“
-
„Der
Heimatbegriff wandelt sich, entsprechend den Veränderungen der
Lebenswelt und den veränderten Formen der Entfremdung von dieser
Lebenswelt.“ ‚Heimat‘ ist nur zu verstehen in seinem
jeweiligen gesellschaftlichen und historischen Kontext. „Der
Heimatbegriff ist immer schon ein Konstrukt.“
Weil Bonhoeffer in
einer anderen Welt lebte als wir heute, ist ‚Heimat‘ für
Bonhoeffer etwas anderes als für uns heute, auch wenn manches
ähnlich klingen mag. Lincoln verweist dazu auf den biografischen und
gesellschaftlichen Kontext. Bonhoeffer „lebte in einer Zeit
ungeheurer Um- und Abbrüche und nie zuvor gesehener
Zwangsmobilität.“ Schon der 1. Weltkrieg löste Entwurzelung,
Verschleppung, Vertreibung, Umsiedlung von Menschengruppen in Europa
aus. Dies wurde durch den 2. Weltkrieg noch verstärkt. „Zwischen
1914 und 1945 wurde Europa zu einem Kontinent der Entwurzelung und
Heimatlosigkeit für unzählige Millionen von Menschen.“ Dadurch
ist Heimat „für Einzelne wie Generationen zu einer höchst
komplizierten und nahezu ortlosen Sache geworden… Es gibt kein
Woher mehr.“ Dies wird zur Generationserfahrung breiter
Bevölkerungsschichten. Und das Paradox: „Aber dies ist auch die
Welt, in der zugleich für viele andere Menschen in Europa ein
relativ behagliches bürgerliches Leben in mehr oder weniger großem
Wohlstand und Sicherheit möglich war.“ Das ist die Welt, in der
Bonhoeffer, der Sohn einer groß- und bildungsbürgerlichen Familie,
aufgewachsen ist.
Die 2.These:
„Bonhoeffers biographische Heimaterfahrungen spiegeln sowohl die
bürgerliche Sicherheit seiner Herkunft als auch die traumatischen
Entfremdungen seines Zeitalters.“
Biografisch gesehen war
für Bonhoeffer die Geborgenheit seines Elternhauses und die
familiäre Gemeinschaft Heimat. Lincoln spricht von einer privaten
Heimaterfahrung und unterscheidet diese von einem reflektierten
politischen Heimatbegriff. Bonhoeffer war sich der familär
verwurzelten Sicherheit bewusst. Seine Schwester Susanne gibt eine
Äußerung ihres Bruders Dietrich so wieder:
„Ich möchte einmal
ungeborgen sein. Wir können die anderen nicht verstehen. Bei uns
sind immer die Eltern da, die alle Schwierigkeiten erleichtern. Und
ob wir noch so weit weg sind, gibt uns das eine so unverschämte
Sicherheit.“ Dies gilt trotz der zahlreichen Auslandsreisen und
-aufenthalte Bonhoeffers. „Er überschritt Grenzen, auch Grenzen
seiner Herkunft und seines Milieus.“ Am Deutlichsten beim 1. New
Yorker Aufenthalt 1930/31 hin zu den afroamerikanischen Christen in
Harlem. Noch scheint es: „Dieser Wander- und Reisedrang ist
zunächst vielleicht Ausdruck des Lebens- und Bildungshungers eines
begabten und privilegierten Bürgersohnes.“
Mit der Rückkehr aus
London, so Lincoln, ändert sich diese Lebensform. „Aus dem
Weltenbummler wird ein Wanderer innerhalb der Grenzen Deutschlands.“
Hat Bonhoeffer mit dem Predigerseminar in Finkenwalde noch einen
klaren Lebens- und Wirkungsmittelpunkt, so wechseln die Orte ab 1940
– verursacht durch seine Mitwirkung in der Konspiration gegen
Hitler. Für Lincoln ist Bonhoeffer nicht nur zu einem
„Geheimdienstler, sondern auch zu einem Wanderer und Passanten
geworden, der als Mittdreißiger den Pfad des bürgerlichen Lebens
längst verlassen hatte.“ Das erinnere ihn an Walter Benjamins
„Passagen-Werk“ mit seinen Großstadtreflexionen. Zwar sei
Bonhoeffer kein philosophischer Flaneur der Großstadt, „aber in
der Tat stelle ich ihn mir in diesen Kriegsjahren vor als einen
bürgerlichen Wanderer ohne festen Halt in seiner bürgerlichen
Herkunft.“ Darin sieht er die theologische Pointe: „Für
Bonhoeffer wurde der Gedanke wichtig, selber Gast auf Erden zu sein –
und mehr nicht.“ Nach Lincoln verbindet Bonhoeffer diese
anthropologische Grunderfahrung mit der theologischen Wertschätzung
der Diesseitigkeit: „Ich darf meinem Los, ein Gast und Fremdling
auf dieser Erde sein zu müssen, nicht dadurch ausweichen, dass ich
mein irdisches Leben in Gedanken an den Himmel verträume“ (DBW 15,
530).
Auch wenn er seiner
Schwester Susanne gegenüber in jungen Jahren von der ‚unverschämten
Sicherheit‘ sprach, die ihm das Elternhaus mitgegeben hatte, so gab
es „auch für ihn Entfernungen und Entfremdungen, die sehr
schmerzhaft waren.“ Bonhoeffers Beschäftigung mit der Heimat, so
Lincoln, beginnt beim ‚Heimweh‘.
Die 3. These:
„Heimweh und Exil – Bonhoeffers Reflexionen der Heimat stehen im
Zusammenhang einer doppelten Exilserfahrung.“
Lincoln beruft sich
dafür auf eine Passage in einem Brief Bonhoeffers an E. Bethge vom
18.12.1943, dem 4. Adventssonntag: „Ich habe ein paar Mal in meinem
Leben das Heimweh kennen gelernt. Es gibt keinen schlimmeren Schmerz“
(DBW/WE 92). Es ist einer der ersten unzensierten Briefe an den
Freund aus der Haft. Lincoln nennt für ‚Heimweh‘ zwei Beispiele
aus Bonhoeffers Lebens. In beiden Lebenssituationen bricht das
Heimweh auf in Exilssituationen. „Bonhoeffer hat besonders dort
Heimweh erlebt und als schmerzhaft erfahren, wo er durch seine
Lebensumstände in eine Situation des Exils gebracht wurde, mit der
er sich auseinandersetzen musste.“
Das eine Beispiel ist
seine zweite USA-Reise im Sommer 1939. Sie hätte der Weg aus
zunehmender Verfolgung und der Ausweg aus der anstehenden
Einberufung zum Militärdienst sein können. Sein Tagebuch spiegelt
eindrücklich das Heimweh, das ihn im möglichen Exil befällt (DBW
15, 217 – 240). Bonhoeffer beklagt das große theologische Gefälle
zwischen Deutschland und den USA. Er spürt seine existentielle
Verlorenheit in der Fremde, die heil zu sein scheint, während
Deutschland brennt. „Es ist doch für einen Deutschen hier drüben
nicht auszuhalten; man wird einfach zerrissen. Während einer
Katastrophe (erg. „in Deutschland“) hier zu sein, ist einfach
undenkbar, wenn es nicht so gefügt wird. Aber selbst daran schuld zu
sein, sich selbst Vorwürfe machen zu müssen, unnötig
herausgegangen zu sein, ist gewiss vernichtend… Weh dann denen, die
hier heimatlos sind“ (DBW 15, S. 231f). Der Schmerz des Heimwehs
nach Familie und den Brüdern im Predigerseminar und die Qual der
Schuldgefühle, geflohen zu sein statt standzuhalten, treibt
Bonhoeffer um. In dem Heimweh erkennt er, dass er in die Heimat
zurückfahren muss: Nicht „als würden wir gebraucht (von Gott!?),
sondern einfach weil dort unser Leben ist und weil wir unser Leben
zurücklassen, vernichten, wenn wir nicht wieder dabei sind. Es ist
gar nichts Frommes, sondern etwas fast Vitales“ (DBW 15, 234).
Einerseits: „Dies
sind starke Aussagen über eine Heimatverbundenheit.“
Andererseits:
Bonhoeffer fühlt sich als ein Exilierter, der sich die fremde Umwelt
nicht aneignen kann. Seine Äußerungen drücken seine ‚Be-Fremdung‘
aus. „Die Heimat hat gerufen, und ihr Ruf ist stärker als alle
anderen Stimmen.“ Ins Exil zu gehen wäre in diesem Moment für ihn
die falsche Entscheidung und die Rückkehr zugleich auch ein Sieg des
Heimwehs.
Seit April 1943 erlebt
er das, was ‚Exil‘ meint, tatsächlich. Es ist gefügt und er
flieht nicht. Es ist, so Lincoln, das Exil im eigenen Land in einer
Gefängniszelle. „Das Gefängnis ist eine Verbannung für
Bonhoeffer, eine nicht überbrückbare traumatische Trennung von den
Menschen, die ihm Heimat und Geborgenheit bedeuten. Distanz und
Ohnmacht, Trennung und Unfreiheit, in diesen eisernen Koordinaten
bewegt sich sein Leben als Verbannter in diesen Jahren.“ Zugleich
reflektiert Bonhoeffer diese Situation.
Lincoln zieht dazu eine
Passage aus dem im Mai 1944 geschriebenen Taufbrief für Dietrich
Bethge heran. (Dietrich Bethge war der Sohn von Dietrich Bonhoeffers
Freund Eberhard und Renate Bethge, Tochter von Dietrichs Schwester
Ursula und ihrem Mann Rüdiger Schleicher.) Bonhoeffer beschreibt
darin liebevoll „die Herkunft des Kindes, seine Verwurzelung in der
Welt der vorangegangenen Generationen.“ Zugleich sieht Bonhoeffer
die Welt der Eltern und Großeltern versinken. „Ich würde dir
wünschen, auf dem Lande aufwachsen zu können; aber es wird nicht
mehr das Land sein, auf dem Dein Vater großgeworden ist. Die
Großstädte, von denen die Menschen sich alle Fülle des Lebens und
des Genusses erwarteten und in denen sie wie zu einem Fest
zusammenströmten, haben den Tod und das Sterben mit allen
erdenklichen Schrecken auf sich gezogen und wie auf der Flucht haben
Frauen und Kinder diese Orte des Grauens verlassen“ (DBW 7, S. ).
Bilder der
Bombardements der großen Städte in Deutschland und der damit
verbundenen Vertreibung und Heimatlosigkeit im eigenen Land werden
wach. Menschen werden „zu Flüchtlingen und Exilierten innerhalb
der eigenen Staatsgrenzen, der eigenen Heimat.“ Bonhoeffer
beschreibt „den Verlust einer Lebenswelt, die früher einmal die
Menschen getragen hat, nun aber im Untergehen begriffen ist. Es ist
nicht die Vertreibung aus dem Paradies, aber doch der Untergang einer
Welt. Wie die neue Welt aussehen würde, das war ihm viel weniger
klar. Doch dass die Christen diese neue Welt mit Kaft und gläubiger
Diesseitigkeit annehmen und gestalten werden, das erwartete er
unbedingt. Bonhoeffers Blick auf die verlorene Heimat ist nicht
larmoyant (rührselig), sondern nüchten.“
Die beiden Beispiele
von ‚Exilserfahrungen‘ 1939 und 1943ff zeigen unterschiedliche
Reaktionen und Reflexionen. Einmal siegt das Heimweh nach der Heimat.
Das andere Mal verbindet Bonhoeffer Heimat, auch seine eigene
Herkunft, mit dem erfolgten geschichtlichen Umbruch und mit der
Verantwortung, diese überpersonalen Entwicklungen anzunehmen.
Bonhoeffer, so Lincoln, hat in seinen reifen Jahren mit der Spannung
von Heimat und Exil gerungen. „Heimat,“ so das Fazit, „ist für
ihn eine Chiffre für eine verlorene Herkunft. Die religiös mündig
gewordene Welt der Gegenwart aber ist bestimmt durch die Erfahrung
des Exils, innerhalb wie außerhalb der Staatsgrenzen.“ In diesem
Ringen mit den Grunderfahrungen des 20. Jahrhundert sieht der
Vortragende den Beitrag Bonhoeffers für den spannungsvollen
Zusammenhang von Heimat und Exil. Er schließt mit einem Gedicht von
Marianne Leibholz, der ältesten Tochter von Bonhoeffers
Zwillingsschwester und einem weiteren Patenkind Dietrich Bonhoeffers,
das sie mit 18 Jahren im britischen Exil geschrieben hat und das den
Titel ‚Exil II‘ trägt. Die Erfahrungen eines Vertriebenen aus
der Heimat bündelt sie in der 4. Strophe nach dem Durchleiden der
Vertreibung:
„Kraft strömt ihm
zu. Kennt keine Fremde,
nur Vaterland, soweit
der Himmel reicht.
Wird nie mehr wie
vorzeiten Heimat finden.
Er ahnt es, dankbar.
Und sein Herz ist leicht.“
Was ist ‚Heimat‘?
– Zwischen Verlust, Suche und Ankommen
In der anschließenden
Diskussion unter der Moderation von Pfr. Christoph Carstens erörtern
die Gesprächspartner Renate Zöller, Daniel Ziemer und Propst Dr.
Lincoln die unterschiedlichen Facetten des Leitwortes ,Heimat‘.
(Ausführlich zu den Personen am Ende dieses Berichtes.)
Der Moderator setzt mit
einer Beobachtung aus seiner Kindheit in der DDR ein: Auf den Waggons
der Deutschen Reichsbahn (schon das ein Kuriosum) entdeckte er an den
Waggons das Wort ,Heimatbahnhof‘ mit einem Städtenamen dahinter.
Provokativ die Frage: Kann ein Zugwaggon eine Heimat haben?
Bezeichnet demnach ,Heimat‘ nur einen Herkunftsort?, so die Frage
an Frau Zöller.
Sie hat in ihrem Buch
als Journalistin vielfältige Interviews mit Menschen mit
unterschiedlichen Heimaterfahrungen ausgewertet und veröffentlicht.
Dabei zeigte sich, dass Heimat nicht nur die Beschreibung für eine
Herkunft ist. „Heimat antwortet nicht nur auf die Frage: »Woher
kommst Du?«, sondern kann auch in die Zukunft deuten: »Wo finde ich
ein (neues) Zuhause?« Ich kann mir eine neue Heimat schaffen, wenn
ich eine alte unfreiwillig verloren oder freiwillig verlassen habe.
Weil zudem jede und jeder unterschiedliche Heimat-Erfahrungen in
seinem Leben gesammelt hat, müssen wir von Heimat eigentlich im
Plural sprechen.“ ,Heimaten‘ – so hätte sie ihr Buch am
liebsten betitelt. Das wirft die Frage auf: Ist ,Heimat‘ eine
individuelle oder kollektive Konstruktion?
„Kann ,Heimat‘ eine
gemeinsame Plattform sein, so wie früher erzählte Erinnerungen von
Menschen begannen: Damals in der Heimat… ?“ So stellt der
Moderator Daniel Ziemer, der mit der Stiftung Flucht – Vertreibung
– Versöhnung die Erinnerungen von ,Heimatvertriebenen‘
dokumentiert und archiviert, ja sogar musealisiert, die nächste
Frage. Es gab und gibt Erfahrungen von ,verlorener Heimat‘. Sie
wurden in der Nachkriegszeit von Flüchtlingen aus den östlichen
Gebieten des ehemaligen Deutschen Reiches häufig geäußert und in
Vertriebenenverbänden gebündelt und politisch vertreten. Mit dem
Reklamieren des Heimatverlustes, der politischen Forderung nach
Heimatrecht und Wiederherstellung der Vorkriegsgrenzen, rückte die
Erinnerung an die Heimat in der Zeit der Entspannungspolitik in ein
zunehmend revanchistisches Licht. Die verlorene Heimat, also die
Vergangenheit sollte wiederhergestellt werden. Beruhigend: Ein
solches Heimatverständnis vererbt sich nicht. Die nachfolgenden
jüngeren Generationen lösten sich davon, weil sie die reklamierte
Heimat nur aus Erzählungen kannten, sich mit der neuen politischen
Situation arrangierten und sich neu beheimateten.
Aber, so die Rückfrage
des Moderators, hat es dann noch Sinn, diese Erfahrungen
festzuhalten, sie zu dokumentieren und zu präsentieren in Form eines
Museums? Nur dann, so Daniel Ziemer, wenn es gelingt, in der
Konfrontation mit dem Heimatverlust zu vermitteln, dass die gestrigen
Erfahrungen der Vertreibung aus der alten Heimat sich mit Erfahrungen
heutiger Flucht und Vertreibung verbinden lassen, Zugänge zu ihnen
eröffnen und sich durch die vergleichende Vermittlung die Einsicht
einstellt, dass die Verlusterfahrungen von Heimat, die Sehnsucht nach
Heimat und die Neugründung von Heimat gewissermaßen universell
sind. Die Empathie mit den individuellen, aber auch teilweise
kollektivierbaren Erfahrungen von Heimatvertriebenen können dann
helfen, Empathie für heutige Vertriebene und Flüchtende zu wecken,
und umgekehrt kann die Anteilnahme am Schicksal heutiger Geflüchteter
auch zu einer größeren Sensibilität für die Erinnerungen der
deutschen Vertriebenen führen.
Doch gelingt das
heute?, fragt der Moderator weiter. Hören wir nicht immer wieder von
den einst Betroffenen: Ja, das waren Deutsche, aber heute, das sind
Andere, Fremde mit anderen Sprachen, aus anderen Kulturen und mit
unbekannten Religionen. Das ist unvergleichbar. Können wir von den
individuellen oder teilkollektiven Erfahrungen hindurchstoßen zu
universellen, die dann zu einem gegenseitigen Verständnis des
Verlustes von Heimat und der existentiellen Erfahrung von Heimat
führen? Die Frage bleibt zunächst unbeantwortet.
Wie ergeht es einem
deutschen Theologen, der als Pfarrer ins Ausland geht?, fragt der
Moderator Propst Dr. Lincoln. Packt er seine ,Heimat‘ mit in den
Koffer? Nimmt er seine vertraute Kultur mit in eine andere, fremde
Welt? Die neuen Erfahrungen in einem fremden Umfeld, so Ulrich
Lincoln, führen dazu, zum einen auf die Herkunft zurückzuschauen,
sie bewusster wahrzunehmen, Unterschiede zu entdecken. Sie führen
aber auch dazu, diese mit neuen Augen anzuschauen, dabei Unbekanntes
zu entdecken und Allzubekanntes neu zu verstehen.
Und dann: In den
Kirchengemeinden der Auslandsdeutschen, so seine Beobachtung, war das
Thema ,Heimat‘ nicht wichtig, wohl aber die Sprache. Mit anderen
die vertraute Sprache zu sprechen und zu pflegen, auch wenn die
Sprache des ‚Einwanderungslandes‘ gelernt worden war. So ist die
Glaubenssprache zumeist deutsch und die Frage aktuell: Was geben wir
unseren Kindern, die in dem fremden Land aufwachsen, mit?
Der Moderator wendet
sich an Frau Zöller: „Ist das das, was Sie ,Heimatgefühl‘
nennen nicht viel zu vage und sehr subjektiv?
Heimat lässt sich
nicht an einem Ort allein festmachen, so die Antwort. Zwei Menschen
können am selben Ort wohnen und ihre Heimat trotzdem ganz
unterschiedlich empfinden. Sie hängt mit den Menschen zusammen, mit
denen man dort lebt, mit denen uns die Vergangenheit, Gegenwart oder
Zukunftspläne verbinden. Außerdem ändert sich auch die eigene
Wahrnehmung von Heimat immer wieder im Leben, mal kann sie wichtiger,
mal unwichtiger sein. Deshalb hat die Autorin dem Buch ein Zitat aus
einem Lied von Herbert Grönemeyer vorangestellt: ‚Heimat ist kein
Ort, Heimat ist ein Gefühl.‘ Frau Zöller würde sogar einen
Schritt weiter gehen: Heimat ist ein Gefühl, das man mit anderen
teilen kann und muss
Vielleicht hilft die
Unterscheidung: Es gibt ein Heimatverständnis, das von außen kommt.
Es antwortet auf die Frage eines Mitmenschen: Wo kommst Du her? Der
Fragende erwartet zumeist eine eindeutige Antwort: Aus diesem oder
jenem Ort oder einer bestimmten Region oder einem Land. Und wenn wir
einen Mitmenschen mit anderem Aussehen als dem typisch deutschen
fragen: ,Wo kommst Du her?‘ und dieser antwortet: ‚Aus Köln‘,
wird die Antwort bezweifelt. Wir schieben nach: ‚Aber wo kommst Du
wirklich her?‘ Darin liegt die Gefahr der Ausgrenzung und der
Einengung auf ein äußerliches Heimatverständnis.
Anders ist hingegen ein
Heimatverständnis von innen, das auf die Fragen antwortet: ,Wo bin
ich zuhause? Wo fühle ich mich geborgen? Wo verorte ich mich?‘
Dieses individuelle Empfinden von Heimat hat nichts mit Abgrenzung zu
tun, so Frau Zöller, sondern öffnet im Idealfall den Raum für ein
plurales Verständnis von Heimat. In der politischen Diskussion gilt
häufig die Festlegung, der Mensch könne nur eine Heimat haben, oder
umgekehrt: Jeder Mensch müsse eine Heimat haben. ,Heimat‘
im Plural würde z. B. eine Debatte wie die um Mesut Özil
entkrampfen. Wenn es nicht nur eine Heimat sondern mehrere Heimaten
gibt und ich hier und dort beheimatet sein kann, dann öffnet
sich eine Brücke. Wie es in mir eine Pluralität gibt, so auch im
Anderen. Erzähl mir von Deiner, ich erzähl Dir von meiner Heimat,
aber auch von den verlorenen Heimaten. Dann kann es zu einem Gespräch
darüber kommen, was Dir, was mir, was uns ,Heimat‘ ist, wo wir
zuhause sind. Über Unterschiedliches und Trennendes hinaus kann sich
Verbindendes zeigen.
Kann auf diese Weise
ein inklusives, ein universelleres Verständnis von ,Heimat‘
entstehen? Daniel Ziemer berichtet von einer Erfahrung im Blick auf
die Suche nach geeigneten Bildern und Symbolen für die Erfahrung von
Heimat und Heimatverlust im Rahmen von Ausstellungen. Aus Interviews
mit Heimatvertriebenen ergab sich, dass diese z. B. aus ihrem
Heim, das sie verlassen mussten, einen Schlüssel mitgenommen haben.
Er wurde aufbewahrt als Erinnerungszeichen des Verlustes der Heimat,
aber auch als Hoffnungssymbol. Als er mit einer Gruppe syrischer
Flüchtlinge sprach und dieses Symbol des Schlüssels zeigte,
verstanden sie es. Sie erzählten fast identische Geschichten, in
denen auch der Hausschlüssel Zeichen für den Verlust der vertrauten
und die Sehnsucht nach einer neuer Heimat ist.
Gläubige Menschen, so
der Moderator weiter, sprechen von der ,Heimat‘ im Himmel. ‚Bewahrt
dieses transzendente Heimatverständnis vor einem aus- und
abgrenzenden Heimatverständnis und vor Verirrungen in den
unterschiedlichen Deutungen?‘, fragt er den Theologen in der Runde.
Ulrich Lincoln zögert und ist sich nicht sicher, ob es so ist. Wohl
hilft das Bewusstsein, Gast auf Erden zu sein und die eigene
Sterblichkeit zu akzeptieren, ein exklusives, ausgrenzendes
Heimatverständnis zu entgrenzen. Das relativiert ein allzu
festgelegtes Heimatverständnis. Hier sind vor allem die
evangelischen Theologen in Deutschland gefragt, die sich zur Zeit
Bonhoeffers kaum mit der Erfahrung von Exil und Heimatlosigkeit
beschäftigt haben. Bis in die Wortwahl hinein zeigt sich auch heute
noch die ev. Kirche als ,Heimatkirche‘. Sie spricht von
Landeskirchen und Landesbischöfen. Doch dagegen hilft nicht, mit
einem Bein im Himmel zu stehen und dort seine Heimat zu haben,
sondern ein universelles, ökumenisches Verständnis von Kirche und
Christenheit.
Einen weiteren Aspekt
des Heimatverständnisses zeigt der Hinweis des Moderators auf den
Namen seines ehemaliges Schulfaches in der Grundschule: ,Sach- und
Heimatkunde‘. Der Moderator bittet das Publikum um eine Abstimmung.
Welcher Aussage stimmen Sie eher zu: Der Aussage „Heimat hat man“
oder der Aussage „Heimat muss man lernen“? Ist Heimat ein einmal
erworbener, bleibender Besitz, ein in der Kindheit vermitteltes
Gefühl, oder ist Heimat etwas, was ich erwerben kann, mir aneignen
muss oder soll? Die Meinungen im Publikum gehen auseinander,
mehrheitlich hin zu ‚Heimat hat man‘. Es wurde aber auch infrage
gestellt, ob die Aussagen sich gegenseitig ausschließen.
,Heimat‘ ist eine Art
Mitgift und Prägung. Zugleich bin ich herausgefordert, meine
Vorstellungen offen zu halten. ,Heimat‘ kann, soll und muss sich
wandeln, so Renate Zöller. Sie glaubt: Die zuerst wahrgenommene
Heimat der Kindheit ist uns besonders warm in Erinnerung, weil wir
sie nicht erobern mussten. Geborgenheit, Sicherheit, Liebe werden uns
meist von unseren Familien ungefragt geschenkt, ohne dass wir darüber
überhaupt nachdenken. Wenn wir uns als Erwachsene eine neue Heimat
schaffen wollen, versuchen wir das über unseren Intellekt, indem wir
uns engagieren, Freunde suchen, in Vereine gehen. Es ist nicht
einfach, sich neu zu beheimaten, glaubt Frau Zöller, und zugleich
findet sie es besonders wichtig, es, wenn nötig, immer wieder neu zu
versuchen – als Zugezogener ebenso wie als Gebliebener.
Auf die Frage des
Moderators, ob und welches Potential in der ,Heimatdiskussion‘ für
die kommenden Jahre steckt, antworten die Gesprächspartner
abschließend:
Wir stecken schon
mitten drin in dieser Diskussion. Das zeigen der Fußball, die breite
Zustimmung zur Volksmusik, entstehendes regionales Heimatbewusstsein.
Doch müssen wir wahrnehmen, dass der Heimatbegriff sehr ambivalent
ist und damit auch die Berufung auf ‚Heimat‘. Darum sollte in der
weiteren Debatte ein angewandter Heimatbegriff betont werden. Wir
sollten statt einer emphatischen Heimatdebatte lieber eine
Regionalisierungsdiskussion führen und wegkommen von einem
exklusiven und pathetischen Heimatverständnis. Der Heimatbegriff
selbst bleibt problematisch, gerade auch in seiner Interpretation als
Gefühl. Stattdessen kann man von Bonhoeffer lernen: Für ihn ging es
nicht mehr um Heimatgefühle, sondern um das Verstehen einer
geschichtlichen Situation. (Propst Dr. Lincoln).
Die Debatte über
Heimat wird immer dann problematisch, wenn sie sich zu einem
Identitätsstreit mit Aus- und Abgrenzungen entwickelt. Wir müssen
darum wachsam darauf achten, welche Folgen die Verwendung des
Begriffes ,Heimat‘ in Deutschland jeweils und bei wem auslöst,
denn das Wort wurde in der deutschen Geschichte immer wieder als
politischer Kampfbegriff benutzt.. Schließt es Vielfalt und
Diversität ein und ermöglicht es sie, dann kann die Verwendung
hilfreich sein, z. B., wenn damit Geborgenheit oder
Kleinräumigkeit gemeint ist. (Daniel Ziemer)
Wir sollten dennoch den
Gebrauch des Wortes ,Heimat‘ nicht aufgeben und nicht den lauten
Stimmen von Rechts überlassen, sondern positiv besetzen, auch wenn
es schwer fällt. Das Bedürfnis nach einer überschaubaren Heimat in
einer globalisierten Welt ist vorhanden – das müssen wir ernst
nehmen. Wir sollten über Heimaterfahrungen und Heimatgefühle
sprechen und davon erzählen, um zu erkennen, wie vielfältig sie
sind, wie hilfreich für ein menschliches Miteinander, und dass sie
einem Grundbedürfnis des Menschen nach Beheimatung entsprechen.
(Renate Zöller)
So bestätigte,
reflektierte und vertiefte das Rundgespräch das, was die
Teilnehmenden nach dem Mittagessen in ihren Gesprächsrunden mit den
,Wortwolken‘ zu den einzelnen Buchstaben des Wortes ‚HEIMAT‘
aus ihren jeweiligen Heimaterfahrungen zu Papier gebracht hatten –
die Plakate hatten sie mit in den Kirchenraum gebracht .
Mit einem Dank an die
Gesprächspartner sowie an den Moderator für ihre engagierte und
anregende thematische Gestaltung und mit einem Dank für das
interessierte Zuhören und Mitgehen der ca. 50 Besucher schließt der
Kassenwart des Vereins den Nachmittag.
Ausklang
Draußen haben die
Wolken am Himmel mehr Lücken gelassen, so dass die wärmende Sonne
die Kühle des Vormittags vertrieben hat und nun jenes Mittelgebirge,
das Dietrich Bonhoeffer als die Landschaft, die ihn geprägt und
gebildet hat, in klares Licht taucht. Die für die Bonhoeffer-Kinder
heimatliche Landschaft ist heute eine Landschaft für Menschen im
Umbruch. Davon zeugen nicht nur die Baustellen, die in diesem Sommer
versiegenden Bäche und Talsperren, die Umweltschäden an Wald und
Flur, sondern auch die Wirkungen deutscher Nachkriegsgeschichte, die
die Menschen in Ost und West in einem einst geteilten Land mit zwei
deutschen Staaten geprägt und verändert haben. Teil dieser
Geschichte ist die wechselvolle Geschichte des einstigen Ferienhauses
der Familie, das den Bonhoefferkindern in den Sommerferien Sommer,
Freiheit und Heimat – so Susanne Bonhoeffer-Dress – bot, Urlaube
für die jungen Familien mit ihren Kindern ermöglichte und Zuflucht
für die Familien des ältesten und der jüngsten der Bonhoeffers vor
den Bomben auf Berlin und Leipzig gab, danach über 40 Jahre der
Familie nicht zugänglich war und Wohnstätte für Flüchtlinge und
später für ältere Menschen in der DDR wurde, heute touristisch
genutzt wird und ein Ort der Erinnerung an eine in den aktiven
Widerstand gegen den NS-Staat involvierte, kulturell und christlich
verwurzelte und weltoffen orientierte Familie geworden ist.
Zu den Personen, die
den 21. Bonhoeffertag inhaltlich mitgestaltet haben:
Christoph Carstens ist
Vorsitzender des Vereins „Bonhoeffer-Haus Friedrichsbrunn“ e. V.
und stellvertretender Superintendent des Kirchenkreises Halberstadt.
Renate Zöller, 1971
geboren, studierte Osteuropäische Geschichte, Germanistik und
Slawistik in Köln, St. Petersburg und Prag. Sie lebte mehrere Jahre
in Moskau und Prag und arbeitet als freie Journalistin u. a. für
die taz, Deutsch Perfekt, den Tschechischen Rundfunk und das
tschechische Magazin Respekt.
Für ihre Arbeit über
Heimat unterstützte sie das Wiener Institut für die Wissenschaften
vom Menschen mit dem Milena Jesenská Stipendium. Sie recherchierte
zur Bedeutung und dem gegenwärtigen Verständnis von ‚Heimat‘.
Sie führte dazu zahlreiche Interviews mit Menschen, die ihre Heimat
verloren haben, auf der Suche nach Heimat sind oder vom Ankommen in
einer neuen Heimat berichten konnten. Ergänzt werden die
persönlichen Interviews von Gesprächen mit einer Gruppe von
Wissenschaftlern aus Halle, die interdisziplinär zum Thema ‚Heimat‘
arbeiten, sowie mit der Psychologin Beate Mitzscherlich. Unter dem
Titel ‚Was ist eigentlich Heimat? – Annäherung an ein Gefühl‘
hat sie die unterschiedlichen Erfahrungen und Erkenntnisse
veröffentlicht: Christoph Links Verlag 2015.
Daniel Ziemer studierte
Neuere und Neueste Geschichte sowie Soziologie in Dresden und
Freiburg. Er arbeitet an der Schnittstelle von kuratorischer Praxis
und musealer Vermittlung und konzipierte zeit- und
kulturgeschichtliche Sonderausstellungen für das Haus der Geschichte
der BRD sowie für das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden. Seit
November 2016 vertritt er den Bereich Bildungs- und
Vermittlungsarbeit der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in
Berlin (
www.sfvv.de).
Dr. Ulrich Lincoln ist
Theologe und Pfarrer der Braunschweigischen Landeskirche. Er
studierte in Bielefeld, Glasgow, Heidelberg und Alexandria/USA. Seine
Doktorarbeit schrieb er über Sören Kierkegaard an der Uni
Frankfurt. Seit 2010 war er als Auslandspfarrer der EKD in der
deutschen Gemeinde in London-Ost, in der auch Dietrich Bonhoeffer von
1933 – 35 wirkte, tätig. Dort hat er das Bonhoeffer Centre London
gegründet, eine Arbeits- und Studiengemeinschaft, die jährlich
einen Bonhoeffer Day gestaltet und weitere Veranstaltungen für
Gemeinden und Bonhoeffer-Forscher anbietet. 2014 erschien ein Buch
‚Die Theologie und das Hören‘. Seit August 2016 ist er Propst
im Kirchenkreis Vorsfelde.